Kapitel 9 | Sanktionspraxis: grosse kantonale Unterschiede
Zentralistische Staaten haben eine der Verwaltung immanente Tendenz, das staatliche Handeln zu vereinheitlichen. Bei föderalistischen Staaten ist dies weniger der Fall, v.a. wenn die Umsetzung von Gesetzen den Teilstaaten überlassen wird. Deshalb ist die Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz nicht nur eine Frage des Geschlechts, der Herkunft, neben vielen anderen, sondern auch eine föderalistische.
Im Kapitel 9, "Sanktionspraxis – grosse kantonale Unterschiede" wird die Frage nach der kantonalen Urteils- und Sanktionspraxis dahingehend untersucht, ob die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet wird.
Unterschiede in der Urteils- und Sanktionspraxis werden beeinflusst durch Kriminalitätsniveau und -schwere, weiter durch die finanziellen und personellen Ressourcen, die den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, durch die Prioritätensetzung in der Strafverfolgung wie auch durch unterschiedliche Zusammensetzungen der Gerichtsbehörden. Dies sind oft auch die Gründe, die angeführt werden, wenn es darum geht, Unterschiede in der Häufigkeit der Strafverfolgung und in der Sanktionenweise unter den Kantonen zu rechtfertigen.
Das Ministerium erlässt einerseits Weisungen zur Harmonisierung der Praxis; andererseits wird versucht, über regelmässige Berichterstattung und Statistiken, die Umsetzung der Weisungen zu kontrollieren. Die Kantone werden angehalten, überproportionale Anordnung von Untersuchungshaft oder deren besondere Dauer zu begründen. Im Bereich des Strafvollzugs wird ein Gefängnisinventar durchgeführt, um die vorhandenen Gefängnisplätze rationeller einsetzen zu können und Insassen unter den Kantonen zu verteilen. Zudem wurden Gutachten in Auftrag gegeben, die helfen sollen, den Grad der Umsetzung der Urteils- und Gefängnispolitik zu beurteilen, siehe u.a. den Bericht von B.F. Kuhn im Kapitel 11, Seite 185.
Die Urteilshäufigkeit wird anhand von Daten des Strafregisters der Jahre 1910, 1960 und 2010 beurteilt. Lässt man die Extreme weg, teilten sich die Kantone im Jahre 2010 in zwei grosse Gruppen auf, eine erste mit rund 1500 Verurteilungen pro 100’000 Einwohner und eine zweite mit rund 1000 Verurteilungen pro 100’000 Einwohner. Die erste umfasst insbesondere die Kantone mit urbanen Zentren und die Romandie, mit der einen oder anderen Ausnahme, wie z.B. der Kanton Zürich. Die andere Gruppe betrifft die kleineren oder ganz kleinen Kantone.
Im Zeitablauf kann ein starker Anstieg beobachtet der Urteilshäufigkeit beobachtet werden; wurden 1910 rund 400 Verurteilungen pro 100’000 Einwohner registriert, so waren es 1960 rund 750 und 50 weitere Jahre später nochmals nahezu doppelt so viele Verurteilungen pro 100’000 Einwohner auf. Dazu muss gesagt werden, dass dieser Anstieg nicht mit dem Anstieg der klassischen Kriminalität in Zusammenhang steht, sondern mit der Strassenverkehrsdelinquenz. Erst in den 1980er-Jahren nehmen zuerst die Drogendelikte zu, später dann auch Straftaten gegen das Ausländergesetz und erst seit 2004 nahmen die Straftaten nach dem Strafgesetzbuch zu.
Die Sanktionsweisen können nach unterschiedlichen Strafarten (unbedingte, bedingte Freiheitsstrafe, monetäre Strafe) untersucht werden, wie dies gesamtschweizerisch in der hinteren Umschlagsgraphik Abb. N.1 gemacht wurde. Ein anderer Weg besteht darin, diese Unterschiede ausschliesslich an Hand der unbedingten Freiheitsstrafe darzustellen, indem diese als Gradmesser für die Sanktionsweisen gewählt wird.
1910, 1960 und 2010 wurden je rund 8000 unbedingte Freiheitsstrafen ausgesprochen, infolge des starken Bevölkerungswachstums in den letzten 100 Jahren führt dies zum Abfall der Häufigkeitszahlen von unbedingten Freiheitsstrafen von durchschnittlichen 400 auf 120 und neuestens auf 90 pro 100’000 Einwohner.
Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind gross, liegen doch im Jahr 1910 die grösseren, städtischen Kantone vorne, mit deutlich höheren Fallzahlen, während die kleineren – und einzelne Kantone ohne Vollzugsanstalt – tiefere Fallzahlen schreiben. 1960 sind es v.a. die Kantone Neuenburg und Basel-Stadt, welche die höchsten Fallzahlen ausweisen, gefolgt von Kantonen mittlerer Grösse, während periphere Kantone diese Strafen nur noch seltener verhängen. Schliesslich gibt es grössere Unterschiede im Jahre 2010, wo Genf ganz alleine vorne liegt, gefolgt von den meisten westschweizerischen Kantonen. Festzuhalten ist, dass kleinere Kantone unbedingte Freiheitsstrafen immer zurückhaltend aussprachen, während die drei Kantone Basel-Stadt, Genf und Waadt immer obenauf schwingen. Eine statistische Feststellung, die in Zukunft unbedingt näher zu untersuchen ist.
Die Freiheitsstrafen können unterschieden werden in unbedingte Freiheitsstrafen bis 6 Monate, die seit 2007 grundsätzlich nur noch in den wenigen vom Gesetz vorgesehenen Fällen zur Anwendung kommen sollten; eine weitere Kategorie betrifft die über 6- bis 24- monatigen Freiheitsstrafen, eine letzte die über 24-monatigen Strafen.
Die markantesten Unterschiede findet man 2010 bei den kurzen Freiheitsstrafen. Nimmt man Zürich als Gradmesser, so werden im Kanton Waadt zwei Mal mehr und im Kanton Genf fünf Mal mehr kurze unbedingte Freiheitsstrafen ausgesprochen. Basel-Stadt, Neuenburg und Bern kennen Raten von kurzen Strafen, die nahe am schweizerischen Durchschnitt liegen, während alle anderen 20 Kantone tiefe Zahlen ausweisen. Die Unterschiede sind stark ausgeglichen im Falle der über 6- bis 24-monatigen Strafen. Da fallen nur die Fallzahlen pro 100‘000 der Kantone Basel-Stadt und Genf auf. Viel disparater sind die tiefen Fallzahlen der über 2-jährigen Strafen. Hatte Genf bei den kurzen und mittellangen Strafen eine Spitzenposition inne, ist dies bei den langen Strafen nicht mehr der Fall; hier führt nun Basel-Stadt, gefolgt von der Waadt und St. Gallen. Die Mehrheit der Kantone hat weniger als fünf Fälle pro Jahr pro 100’000 Einwohner.
Die Zahlen zur Entwicklung belegen einen klaren Abfall der Fallzahlen von 1910 bis 2010, am eindeutigsten bei den kurzen Freiheitsstrafen. Auch bei den über 6- bis 24-monatigen Strafen ist die Tendenz klar ablesbar. Die Tendenz ist weniger deutlich erkennbar bei den längsten Strafen; Kantone mit vielen langen Strafen sprechen offensichtlich zum Teil auch heute noch längere Strafen aus, während eine Mehrzahl der Kantone dies in viel kleinerem Umfang tut.
In den 1990er-Jahren haben das Forscherteam Heinz und Storz an der Universität Konstanz einen Untersuchungsansatz entwickelt, der es erlaubt, die Rückfallrate zum Vergleich unterschiedlich strenger Sanktionsweisen einzusetzen. Dabei geht es darum, von vergleichbaren Straftaten und -tätern auszugehen, d.h. von Personen, die zum ersten Mal wegen ausschliesslich einer Straftat verurteilt wurden, wobei diese Straftat sehr häufig vorkommen muss. Dies ist der Fall bei Fahren in angetrunkenem Zustand, bei grober Verletzung der Verkehrsregeln oder bei Diebstahl. Es zeigt sich, dass man unter den 26 Kantonen jeweils drei Gruppen bilden kann mit strengerer, durchschnittlicherer und weniger strenger Sanktionsweise.
Das paradoxe Ergebnis ist, dass die Untersuchung keinen Zusammenhang zeigt zwischen Rückfallrate und Strenge der Sanktion. Auch im weiteren Rückfall besteht kein Zusammenhang zwischen Rückfallrate und Strenge der Sanktion – d.h. Kantone, die strenger bestrafen, können keine tieferen Rückfallraten vorweisen. Diese Erkenntnis belegt die These der Austauschbarkeit der Sanktionen in den Bereichen leichterer und mittlerer Delinquenz.
Hier sind Ihre eigenen Überlegungen gefragt!
Auch hier sind Ihre eigenen Überlegungen gefragt!