Kapitel 3 | Modernisierung der Gefängnisse
Die Einrichtungen des Freiheitsentzugs der Schweiz waren um 1800 meist in Festungsbauten, Schlössern, in ehemaligen Klosteranlagen oder auch Spitälern eingerichtet worden, in welchen ein Aufenthalt primär mit körperlichen und psychischen Leiden unter widrigen Lebensbedingungen einherging. Die Freiheitsstrafe war faktisch eine Art Körperstrafe. Im Gegensatz zum Ausland, wo erste Reformbestrebungen bereits im 17. und 18. Jahrhundert beobachtet werden können, bestanden um 1800 in der Schweiz nur wenige altertümliche Vollzugsanstalten (so in Zürich, Luzern, Solothurn, Basel, Bern und Freiburg) neben der im Jahre 1801 eröffneten helvetischen Zentralzuchtanstalt in Baden. Diese Anstalten waren nicht dazu geeignet, den nach dem aufgeklärten Gedankengut geforderten Strafzweck der Besserung umzusetzen.
Ausgehend vom aufklärerischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts und mehreren Bestandesaufnahmen in den bestehenden Einrichtungen in des Freiheitsentzug formulieren Reformer, unter ihnen John Howard und Jeremy Bentham, Forderungen für Verbesserungen in den Vollzugseinrichtungen. So fordern sie die Gefangenenunterbringung in Einzelzellen, Arbeitszwang bei Entlöhnung, die Gewährleistung der Gesundheit der Insassen durch angemessene Ernährung und die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse sowie regelmässige Gefängnisinspektionen durch Dritte.
Die ersten Bauten, die ausschliesslich für den Vollzug entstanden, waren diejenigen von Genf im Jahre 1825 und von Lausanne 1826. Es folgten diejenigen von St. Gallen 1839 sowie Aarau und Basel-Stadt im Jahre 1864. Merkmale dieser eigentlichen Vollzugsanlagen waren deren zwei- (GE, VD), drei- (SG), vier- (BS) und schliesslich fünfflügeliger Grundriss (AG) mit Einzelzellenbau und die Einrichtung von Arbeitsräumen. In den meist grosszügigen Anlagen wurden auch Spazierhöfe eingerichtet, anfangs zum Teil noch in Form von Einzelspazierhöfen (siehe Zeichnung des Pénitencier du Saarberg, Abb. 7.3).
Neben der baulichen Erneuerung der Einrichtungen des Freiheitsentzugs zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde auch das innere Regime der Organisation des Vollzugs von Strafen neu konzipiert. In der Anstalt St. Gallen und in derjenigen in Lenzburg entstand das sogenannte Progressivsystem, das aus dem irischen Stufensystem heraus entwickelt wurde. Gemäss dieser Vollzugskonzeption durchlaufen neueingewiesene Insassen als erste Stufe eine strikte Einzelhaft. Später werden ihnen mehr Freiheiten und Gemeinschaftskontakte gewährt. Teil des Progressivsystems wurde später auch die bedingte Entlassung. Dieses System übt bis heute einen bedeutenden Einfluss im schweizerischen Strafvollzug aus.
Der Zustand der Einrichtungen des Freiheitsentzugs um 1900 ist eingehend bekannt durch die von Gefängnisdirektor Clemens Hartmann und Bundesarchitekt Theodor Gohl im Jahre 1894/1895 durchgeführte Beurteilung aller Gefängnisse und Vollzugsanstalten der Schweiz. Es ging in dieser Untersuchung darum, festzustellen, inwieweit die bestehenden Einrichtungen den Anforderungen des in Ausarbeitung stehenden Strafgesetzbuches entsprechen würden, sah dieses doch verschiedene Kategorien von Einrichtungen, insbesondere für den Vollzug der Strafen und Massnahmen vor. Die Schlussfolgerungen von Hartmann/Gohl waren vernichtend, genügten doch nicht mehr als etwas mehr als 1000 der 6700 vorhandenen Zellen den Anforderungen eines modernen Vollzugs von Untersuchungshaft und Strafvollzug.
Die entscheidende Neuerung um 1900 stellt der Bau von landwirtschaftlichen Strafvollzugskolonien dar, die zu dieser Zeit in den Kantonen Waadt, Freiburg und Bern entstehen. Sie haben zum Ziel, die im Laufe des 19. Jahrhunderts an der Peripherie gebauten, später jedoch im städtischen Gebiet gelegenen Vollzugsanstalten aufs Land zu verbannen, wobei neben der gesunden Umgebung auf dem Land vor allem die landwirtschaftliche Arbeit regenerierend und sozialisierend wirken sollte. Parallel dazu entstehen in mehreren Kantonen weitere aus den städtischen Gebieten ausgelagerte Vollzugseinrichtungen. Zudem werden in grösseren Kantonen Bezirksgefängnisse umfassend modernisiert oder zum ersten Mal als Gefängnis neu erstellt.
Das 20. Jahrhundert ist in mehrerer Hinsicht ein Zeitalter der Modernisierung der Einrichtungen des Freiheitsentzugs wie auch der Lebensbedingungen in diesen. In vielen Kantonen werden im Laufe des Jahrhunderts neue Vollzugseinrichtungen in Betrieb genommen und die veralteten Schlösser, Klosteranlagen und Kornhäuser, die noch als Haftanstalt gedient hatten, aufgegeben. Vor allem nach der Kritik der Schweiz durch das Comité européen pour la prévention de la torture (CPT) im Jahre 1994 kann ein Modernisierungsschub beobachtet werden, bei dem viele Bezirksgefängnisse geschlossen und in den meisten Kantonen neugebaute Regionalgefängnisse eröffnet werden. Neben der Erneuerung der Gebäulichkeiten findet auch eine Modernisierung der Lebensbedingungen in den Gefängnissen statt, indem den Insassen zunehmend Rechte zugestanden und neue Grundsätze umgesetzt werden, so der Normalisierungsgrundsatz, der darauf abzielt, bei der Ausgestaltung der Haftbedingungen auf die durchschnittlichen Lebensgewohnheiten im Lande abzustellen.
Die in der Schweiz selten durchgeführten Inventare des Freiheitsentzugs, u.a. die grosse Untersuchung von Hartmann/Gohl aus dem Jahre 1894/95, erlauben eine Aussage über die Veränderung der Zahl der Haftplätze, während weitere, ab 1890 erhobene Daten zu den Insassen solche über die Belegung der Gefängnisse möglich machen. Was die Platzzahl anbelangt, so kann dank des Vergleichs der Daten zwischen 1890 und 2013 festgehalten werden, dass trotz einer mehr als verdoppelten Bevölkerung die Zahl der Haftplätze zwischen diesen zwei Zeitpunkten nicht gestiegen ist. Die Schweiz hatte 1890 wie 2007 6670 Haftplätze. Im Jahre 2013 ist deren Zahl auf Grund von Neubauten auf 7000 angestiegen. Im Verhältnis zur Bevölkerung zeigt sich jedoch, dass die Zahl der Haftplätze von 220 auf 90 pro 100’000 Einwohner stark gesunken ist. Während in den Jahren um 1900 rund 4500 Insassen gezählt wurden, was einer Belegungsrate von 66% gleichkommt, sind es heute 7000 Insassen, d.h. die Belegungsrate liegt heute bei 100%. Im Verhältnis zur Bevölkerung ist jedoch auch die Gefängnispopulation zurückgefallen, nämlich von 130 auf 85 Insassen pro 100’000 Personen der Wohnbevölkerung.
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