Kapitel 20 | Nachhaltige Finanzierung des Freiheitsentzugs

FS2001: Wie hängen strafrechtliche Notwendig­keiten und ökonomische Zwänge im Freiheits­entzug zusammen? Welche Bedeutung, welche Zwangs­mässigkeit kommen den einen, welche den anderen zu?

Die Kantone sind vom Strafgesetzbuch her verpflichtet, die für den Vollzug von Strafen und Mass­nahmen notwendigen Ein­richtungen und Haft­plätze einzurichten bzw. über Plätze in Ein­richtungen in anderen Kantonen zu verfügen. Sie benötigen ebenfalls Ein­richtungen für die Durch­führung von Polizei- und Unter­suchungshaft. Gleich­zeitig verhängen insb. die kleinen Kantone nicht genügend Strafen und Mass­nahmen, damit sie sich eigene Ein­richtungen leisten bzw. damit diese auf Grund der geringen Anzahl verschiedener Kategorien von Insassen belegt und "rentabel" sein könnten. Insofern stehen die straf­rechtlichen Notwendig­keiten und die ökonomischen Zwänge im Freiheits­entzug konträr zu einander. Die Kantone haben sich deshalb vor gut 60 Jahren zu Vollzugs­konkordaten zusammen­geschlossen, die es erlauben, eine gewisse Anzahl von Ein­richtungen überregional einzusetzen und den Vollzug auf Grund­lage von Kostgeld­ansätzen durchzu­führen. Diese gesamt­gesellschaftliche Begebenheit von strafrechtlicher Not­wendigkeit und ökonomischem Zwang wird von weiteren begleitet, nämlich der Ressourcen­aushandlung im Parlament und im Inneren der Ein­richtungen in einem effizienten Mitteleinsatz.

FS2002: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Finanzierung des Freiheits­entzugs in der Schweiz über die Zeit?

Da die gesamtschweizerischen Datenreihen zur Finanzierung des Freiheits­entzugs nur bis in die 1960er-Jahre zurückgehen, muss hier, soll etwas über die länger­fristige Finanzierung gesagt werden, beschreibend vorge­gangen werden.

Nach anfänglich zögernder Umsetzung der Pläne für den Bau von Straf­anstalten kann fest­gehalten werden, dass sich in der Schweiz viele Kantone grössere Ein­richtungen leisten, die weit über deren Finanz­kraft und auch, mindestens bei den Eröffnungen, weit über deren Platz­bedarf lag. Trotz der hohen Investitionen, die im 19. Jahr­hundert in den Kantonen getätigt werden, verfügt am Ende des 19. Jahr­hunderts, folgt man der 1895 abge­schlossenen Evaluation der Straf­anstalten und Gefäng­nisse durch Hartmann und Gohl, die Schweiz mitnichten über eine moderne Gefängnis­landschaft, gehen die beiden Autoren doch davon aus, dass nur gerade ein Sechstel der Zellen den im Vor­entwurf des Straf­gesetzbuches vorgesehenen Vollzugs­standards entsprechen.

Betrachtet man die Lage nach 1950, d.h. nach Inkraft­setzung des Straf­gesetzbuches, so kann insbe­sondere fest­gehalten werden, dass die Finanzierung des Freiheits­entzugs nachhaltig gewährleistet wurde, geht man von den absoluten Finanz­zahlen oder von den Anteilen der Ausgaben für den Freiheits­entzug aus. So ist es auch erfreulich, dass die Kritik an den Schweizer Gefängnissen durch die CPT des Europa­rates im Jahre 1994 wie auch die Revision des Sanktionen­recht 2002/2006 zu einer tief­greifenden Moderni­sierung der Einrichtungen des Freiheits­entzugs geführt hat und problema­tische Lebens­bedingungen in den Gefängnissen weit­gehend verschwunden sind. Insofern zahlt sich die nach­haltige Finanzierung des Freiheits­entzugs in der Schweiz aus. Es ist für das Ansehen der Schweiz und v.a. für das Image des Kantons Genf, mit dem Standort, der UNO, dem Inter­nationalen Komitee des Roten Kreuzes und vieler Menschen­rechts­organisationen stossend, dass genau dieser Kanton seit Jahren eine Über­belegung in Kauf nimmt.

FS2003: Beschreiben Sie die Beachtung ökono­mischer Erforder­nisse beim Bau und Betrieb der verschiedenen Kategorien von Einrich­tungen des Freiheitsentzugs.

Der Föderalismus, d.h. die kantonale Zuständig­keit der Kantone für den Voll­zug, und die Klein­räumigkeit der Kantone machten ökonomische Über­legungen beim Bau und Betrieb der Ein­richtungen des Freiheits­entzugs, insbesondere im Bereich des Vollzugs, unumgänglich. Während es durch­aus möglich war und immer noch ist, im Bereich der Polizei- und Unter­suchungs­haft mit Kleinst- und Klein­gefängnissen ökonomisch vertretbare Lösungen zu finden, war und ist dies im Bereich des Vollzugs schon seit längerem nicht mehr möglich. Die Viel­falt der für den Voll­zug von Strafen und Mass­nahmen benötigten Ein­richtungen verlangt nach über­kantonalen Lösungen, damit diese ökonomisch tragbar sind. Des­halb gibt es heute eine grössere, wahr­scheinlich in Zukunft eine noch wachsende Zahl an Konkordats­einrich­tungen, so dass die Viel­falt der Haft­plätze überhaupt zur Verfügung steht und das viel­fältige Platz­angebot möglichst effizient genutzt werden kann.

FS2004: Welche Unterschiede bestehen zwischen einer betriebs- oder volkswirt­schaftlichen Sicht­weise auf die Aus­gaben und Ein­nahmen des Bereichs des Freiheits­entzugs?

Bei einer betriebswirtschaftlichen Sicht­weise von Bilanz und Erfolgs­rechnung einer Ein­richtung des Freiheits­entzugs werden deren Ein­nahmen und Aus­gaben mit­einander verrechnet, wobei neben den in den Gewerbe­betrieben oder der Land­wirtschaft erwirt­schafteten Erlösen auch die vom Staat geleisteten Kost­gelder als Ein­nahmen ver­rechnet werden. Letztere stellen jedoch, diesmal volks­wirts­chaftlich gesehen, Kosten des Staates für die Durch­führung von Freiheits­entzug dar und können in diesem Falle nicht mehr als Ein­nahmen verbucht werden; anders gesagt, betrachtet man den finalen Zahler, so ist dies der Staat. Volks­wirt­schaftlich gesehen ist der Vollzug – ganz im Gegen­satz zum Geld­strafen­system – eine gesamt­gesell­schaftlich not­wendige Ausgabe, die privat­wirt­schaftlich nicht optimiert werden kann.

FS2005: Beschreiben Sie die Entwicklung der Ausgaben im Freiheits­entzug seit 1960. Wie setzen sie sich zusammen? Welches sind die ausgaben­treibenden Faktoren?

Die Gesamtausgaben für den Freiheits­entzug steigen von rund 30 Millionen Franken in den 1960er-Jahren auf knapp 900 Millionen Franken im Jahr 2010, wobei die laufen­den Aus­gaben rund 840 Millionen Franken ausmachen. Der Anteil des Freiheits­entzugs an den gesamten Auf­wendungen für die Sicherheit (Polizei, Justiz, Freiheits­entzug) bleibt aller­dings über die ganze Zeit mit rund 10% sehr stabil. Auch gemessen an den Gesamt­ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden ist der Anteil des Freiheits­entzugs, bei anfänglichen leichten Schwankungen, mit 0,6% extrem stabil. Im Beitrag wird weiter ange­nommen, dass von den 840 Millionen rund 180 Millionen ausser­halb der Ein­richtungen, d.h. für Vollzugs­ämter und Bewährungs­dienste neben anderen Diensten ausge­geben werden. Es bleiben dann noch 720 Millionen Franken für den Freiheits­entzug im engeren Sinne.

Da der Freiheitsentzug ein arbeits­intensiver Bereich ist, fällt der grösste Anteil bei den Personal­kosten an. Diese betrugen 2010 rund 400 Millionen Franken und machten 44% der Gesamt­aufwendungen oder 56% der laufenden Betriebs­ausgaben aus.

Die ausgabentreibenden Faktoren sind sicherlich in erster Linie die Personal­kosten, wobei sowohl die Verbes­serung der Arbeits­bedingungen und der Entlöhnung des Personals eine Rolle gespielt haben dürfte wie die der Aus­bildung und der Zertifizierung des Personals. Ein kosten­treibender Faktor stellt die Moderni­sierung vieler Ein­richtungen und die Um­setzung zusätzlicher Sicherheits­standards dar.

FS2006: Welches ist die Entwicklung des Verrechnungs­systems von Kost­geldern unter den Kantonen?

Verrechnungen von Kostgeldern des einweisenden Kantons an den voll­ziehen­den gehen bis in die Helvetische Republik zurück. Trotz­dem werden sie lange Zeit in bilateralen Ver­trägen zwischen Kantonen verein­bart. Erst die Grün­dung der Konkor­date des Straf- und Massnahmen­vollzugs ab den 1950er-Jahren führt zu einer zunehmend verein­heitlichten Regelung bei den Kostgeld­ansätzen. Dabei lösen sich verschiedene Fest­legungs- und Berechnungs­systeme ab, wobei zwischen den Kantonen unter­schiedliche An­nahmen zur Aus­lastung der Ein­richtungen und zu Standort­vorteilen getroffen werden. Erst in der Definition des letzten Berechnungs­systems ab 2005 wurden die Buch­haltungs­grund­lagen offengelegt und zwischen den Konkordaten besprochen, die Quer­schnitts-, Over­head- und Kapital­kosten auf die Vollzugs­plätze umgelegt. Weitere Anpassungen, u.a. an die Vielfalt der Einrichtungs­arten, führen dazu, dass heute knapp 30 Kostgeld­ansätze definiert wurden und diese zunehmend gesamt­schweizerisch standardisiert werden sollen.

FS2007: Vergleichen Sie die Kostgeld­ansätze zwischen den Konkordaten. Welches könnten die Gründe für unter­schiedliche Ansätze sein?

Betrachtet man die Kostgeldansätze der verschiedenen Konkordate, dann sinken sie, mit Aus­nahme des U-Haft-Tages­tarifes, vom Zentral- und Nordwest­schweizer Konkordat über das Ost­schweizer bis zum Konkordat der Lateinischen Schweiz. Die Gründe liegen in den buch­halterischen Grund­lagen wie z.B. dem Beachten der Quer­schnitts-, Over­head- und Kapital­kosten, die auf die Grund­kosten umgelagert werden müssen. Sie liegen aber auch an Annahmen nach der Aus­lastung der Ein­richtungen oder der Berück­sichtigung eines Standort­vorteils, d.h. an der Tatsache, dass man z.B. nur 85% oder 95% der Gesamt­ausgaben als Vollzugs­kosten umlegt.

FS2008: Inwiefern wird das heutige System der Kostgelder­ansätze in Frage gestellt? Durch wen? Geben Sie Gründe für die Infrage­stellung an.

Das bisherige System der Kostgelder­ansätze wurde einerseits durch neue, präzisere buchhalterische Berechnungs­grundlagen abgelöst wie anderer­seits durch die Prinzipien des Neuen Finanz­aus­gleichs. Entschei­dend war jedoch, dass man sich immer mehr einer Voll­kosten­rechnung annähern will, wobei man von einer nahezu vollen Bele­gung ausgeht. Die Standort­vorteile spielen heute eine geringere Rolle als früher.

FS2009: Welche ökonomischen Frage­stellungen können im Zusammen­hang mit Veränderungen im Sanktionen­system behandelt werden? Wie stellten sie sich vor der Revision des Sanktionen­rechts? Wie seither?

Durch den historischen Prozess der Zurück­drängung von Freiheits­entzug werden gesamt­gesellschaftlich weniger Aus­gaben für die Um­setzung dieser staatlichen Aufgabe notwendig. Da die verschie­denen Revisionen des Sanktionen­rechts in hohem Masse darauf abzielten, die Anwendung von Freiheits­entzug zurückzu­drängen, ange­fangen bei der Ein­führung der bedingten Ent­lassung, dann bei der bedingten Freiheits­strafe, den ambulanten Massnahmen, der gemein­nützigen Arbeit oder der elektronischen Fuss­fessel, wurde immer auch nach der ökono­mischen Bedeutung der Revisionen gefragt. So ging es auch bei der Revision 2002 noch­mals darum, nachzu­weisen, dass durch die Ein­führung des Geld­strafen­systems und der gemein­nützigen Arbeit als Sanktion einerseits Mehr­ein­nahmen gemacht würden, anderer­seits weniger Haft­plätze einge­setzt werden müssten. Nach anfänglicher, sehr positiv zu wertender Umsetzung der Sanktionen­revision stiegen die Ein­weisungen wieder an, insbes­ondere in einigen den Aus­ländern gegen­über sehr repressiv ver­fahrenden Kantonen.