Kapitel 19 | Die Konstanz des Rückfalls

FS1901: Welches sind die grund­legenden Unter­schiede der retro- bzw. prospektiven Rückfall­analysen?

Die retrospektive Sichtweise von Rück­fall geht fälschlicher­weise davon aus, dass die Anzahl der Vor­strafen gewisser­massen bereits eine Rückfall­analyse darstellt. Dem ist aller­dings nicht so, denn die Vor­strafen sagen nichts aus über die Tatsache, dass eine sanktionierte Person erneut – diesmal prospektiv gesehen – straffällig wird. Wissen­schaftliche Rückfall­analysen sind prospektiv angelegt, gehen von einem Referenz­urteil oder –ereignis aus und untersuchen, ob eine Person erneut verurteilt oder wieder in den Straf­vollzug eingewiesen wird. Im Focus dieser Analyse ist die Wirkung der Sanktion.

FS1902: Was wird bei Rückfall­analysen gemessen? Was drücken Rückfall­raten aus?

Bei Rückfallanalysen wird das Vorliegen einer neuen Verurteilung für Personen gesucht, die in einem bestimmten Referenz­jahr (-zeitraum) verurteilt worden waren; das Ergebnis drückt das Verhältnis der erneut Verur­teilten zu den Verurteilten im Referenz­zeitpunkt aus und wird als Rate ausgedrückt. Von 100’000 im Referenz­jahr verurteilten Personen sind 30% erneut verurteilt worden; die Rückfall­rate liegt bei 30%. 70% haben sich insofern bewährt, als sie nicht erneut verurteilt wurden (was nicht heisst, dass sie nicht eine Straftat begangen haben; sie wurden auf jeden Fall nicht verurteilt). Dieselben Prinzipien können für Personen angewendet werden, die aus dem Straf­vollzug entlassen wurden; für diese sucht man nicht nur neue Verur­teilungen, sondern geht auch der Frage nach, ob sie erneut einge­wiesen wurden.

Das Analysemodell wird allerdings etwas komplexer. In Laufe eines Jahres wird nämlich ein kleiner Teil von Personen mit einer unbedingten Freiheits­strafe sanktioniert und wird in eine Straf­anstalt eingewiesen, zum Teil für mehrere Jahre. Diese Personen können auf Grund der Tatsache, dass sie im Freiheits­entzug ihre Strafe absitzen, nicht in die Grund­gesamtheit aufgenommen werden. Diese Personen werden mit denjenigen, die in dem entsprechenden Jahr aus dem Straf­vollzug entlassen wurden, ersetzt. Man geht hier still­schweigend davon aus, dass die Gruppe der Entlassenen der­jenigen der neu zu einer Freiheits­strafe Verurteilten entspricht.

Da in der Schweiz Ausländer, die aus dem Straf­vollzug entlassen werden, nach der Entlassung oft des Landes verwiesen oder ausge­schafft werden, kann diese Kategorie von Personen nicht mit in die Analyse auf­genommen werden, da die Vergleich­barkeit nicht mehr gewähr­leistet ist. Insofern können für Rückfall­analysen in der Schweiz nur Verurteilte und Entlassene mit schweizerischer Nationalität berück­sichtigt werden. Bei Jugendl­ichen können dagegen diejenigen mit ausländischer Staats­bürgerschaft einbezogen werden.

FS1903: Welche Dimensionen beeinflussen die Rückfallrate?

Die nachfolgend aufgezählten Dimensionen beeinflussen, hierarchisch geordnet, die Rückfallrate: Geschlecht, Alter, Vorstrafen, Sanktionsart.

Eine Vielzahl von Rückfall­analysen in der ganzen Welt belegt, dass Rück­fall in der Zeit, im Raum und völlig unab­hängig vom Rechts­system eine extrem hohe Konstanz auf­weist und grund­sätzlich immer wieder konstante, wenn auch unter­schiedliche Verhältnis­zahlen zu Wieder­verurteilungen und -einweisungen beobachtet werden können. Männer, Jugend­liche, Vor­bestrafte und Entlassene haben systematisch höhere Rückfall­raten als Frauen, ältere Straf­fällige, erst­mals Bestrafte und als Verurteilte mit anderen Strafen als Freiheits­strafen. In allen Ländern haben die aus Jugend- oder Erziehungs­einrichtungen entlassenen Jugend­lichen die höchsten Rückfall­raten. Konstant ist eben­falls, dass die Rückfall­rate gleich nach einer Verurteilung oder Entlassung am höchsten ist, nach kaum 3 Monaten fällt sie systematisch und kontinuierlich ab.

FS1904: Welche Perioden der Rückfall­untersuchungen müssen unter­schieden werden?

Man kann eine Periode vor und nach den grundlegen­den Arbeiten zur Definition und Durch­führung von rückfall­statistischen Analysen von Köbner von 1893 festhalten (→ swissbib). In der neueren Periode gibt es einen ersten Zeit­abschnitt (1900–1940), in dem mit der prospektiv angelegten Analyse­weise erste Unter­suchungen durch­geführt wurden. Während die Rückfall­analysen des Kantons Bern aus dem Jahre 1932, die im Text zitiert werden, die Konstanz des Rückfalls in ein­drücklicher Weise darstellen, waren andere technisch auf einem tieferen Niveau.

Es gibt einen zweiten (1980–2000) und dritten Zeit­abschnitt (ab 2008), in denen mit gesamt­schweizerischen, lücken­losen Daten zuneh­mend differenzier­tere Analysen durch­geführt werden. Der erste Zeit­ab­schnitt beginnt mit der Um­setzung des Gefängnis- und Rückfall-Informations­systems im Bundes­amt für Statistik (GRIS), das erstmals Zugang zu einer relationalen Daten­bank ermöglicht, die für ver­lässliche Rückfall­analysen unab­ding­bar sind. Ab anfangs 1990 werden die ersten Ergeb­nisse der Rückfall­analysen für Entlassene veröffentlicht. Der jüngste Zeit­abschnitt setzt 2008 ein, werden nun nicht nur Jugendliche, Erwachsene und Entlassene in um­fassender Weise ein­bezogen, sondern die gesamten Rückfall­analysen inhaltlich und technisch statistisch erweitert, dokumentiert und in wissen­schaftlichen Publikationen zur Diskussion gestellt, wie dies vorher kaum je gemacht worden war.

FS1905: Wie spielen nationale Fragestellungen und inter­nationale Entwicklungen einander zu?

In der Schweiz wurde die Aufnahme von gesamt­schweizerischen Rückfall­analysen durch die parlamentarische Nach­frage nach Rückfall­zahlen in den 1970er-Jahren ange­stossen. Diese fiel zusammen mit der von der neu entstandenen Konferenz der nationalen Gefängnis­verwaltungen des Europa­rates, welche die Durch­führung von vergleich­baren Rückfall­analysen vorschlug. So entstand eine positive Situation für eine umfassende Moderni­sierung des kriminal­statistischen Daten­banksystems, das spezifisch für die Durch­führung von zukünftigen Rückfall­analyen ausge­staltet wurde. Ausge­rüstet mit einem anonymen Personen­identifi­kator, wurden ab anfangs der 1980er-Jahre die Personen­daten mit allen Urteilen und allen Voll­zügen verbunden gespeichert.

FS1906: Wie drückt sich die postulierte Konstanz des Rück­falls aus?

Rückfallforscher haben bereits zu Beginn des 20. Jahr­hunderts fest­gestellt, dass die Rückfall­raten eine sehr hohe Kon­stanz auf­weisen, wobei Männer, Jugend­liche, Vor­be­strafte und Entlassene systematisch höhere Rückfall­raten als Frauen, ältere Straff­ällige, erst­mals Bestrafte und als Verur­teilte mit anderen Strafen als Freiheits­strafen auf­weisen. Überall haben die aus Jugend- oder Erziehungs­einrichtungen entlassenen Jugend­lichen die höchsten Rückfall­raten. Konstant ist ebenfalls, dass die Rückfall­rate gleich nach einer Verur­teilung oder Entlassung am höchsten ist, nach kaum 3 Monaten fällt sie systematisch und kontinuierlich ab.

FS1907: Zeichnen Sie Diagramme zu den Ergebnissen der zitierten Studien.

Rückfallraten in Prozent, 2003 und 2009

FS1908: Kopieren Sie die Diagramme des Artikels und beschreiben Sie die gefundenen Resultate.

Zu Abb. 19.1: Die vom Statistischen Bureau des Kantons Bern 1932 publizierte Studie zum Rück­fall, basierend auf dem kantonalen Straf­register, stellt, pro­spektiv analysiert, die Rückfall­raten ver­schiedener Jahres­kohorten von Verurteilten dar. Auf­fallend ist die Konstanz der Rückfall­verläufe der Jahres­kohorten über die Beobachtungs­zeit von vier­einhalb Jahren. Sie ist derart konstant, dass sich die Statistiker erlaubten, den jeweils weiteren Verlauf der Rück­fällig­keit durch Extra­polation zu ermitteln. Einer­seits fällt die starke initiale Rück­fällig­keit ins Auge, anderer­seits die seither immer wieder belegte Stabili­sierung der Rück­fällig­keit auf einem bestimmten Höchst­wert, damals rund 43%.

Zu Abb. 19.2: In der von Besozzi 1990 veröffentlichten Grafik auf Grund­lage gesamt­schweizerischer Daten belegt 60 Jahre nach den Berner Zahlen ähnliche Verhält­nisse, wobei hier die Rückfällig­keit grafisch in neu­artiger Weise dar­gestellt wurde.
Über eine Zeit von 5 Jahren konnte für 51% aller entlassenen Schweizer keine neue Verur­teilung gefunden werden; für 49% konnte eine Wieder­verurteilung nach­gewiesen werden, während für 40% eine erneute Ein­weisung beobachtet wurde. Eine Rückfall­schärfung nach dem damaligen Art. 67 StGB hatten 37% der erneut rück­fälligen Personen erfahren.

Zu Abb. 19.3: Die vom BFS 2014 ver­öffentlichten Rück­fall­raten von Personen, die aus dem Straf- und Massnahmen­vollzug in sechs Referenz­jahren entlassen worden waren, belegt, über eine Zeit von 3 Jahren beobachtet, die Konstanz der Verhält­nisse zwischen zwei Dimensionen: die Wieder­verurteilungs­rate ist stets höher als die Wieder­einweisungs­rate. Sind diese Verhält­nisse relativ konstant bis 2003, fallen sie für 2008 und verstärkt 2009 ab, stärker in Bezug auf die Wieder­ein­weisungs­rate als auf die Wieder­verurteilungs­rate. Es wird sich zeigen, ob dies eine unerwartete Folge der Revision des Sanktionen­rechts ist.

FS1909: Redigieren Sie eine kurze Presse­mitteilung zu diesen Ergebnissen.

Beziehen Sie sich auf die letzte Graphik der vorherigen Frage.