Kapitel 15 | Der Wandel der Gefangenenpopulation

FS1501: Wie entwickelt sich die Gefangenen­population in absoluten und relativen Zahlen?

Stephano Franscini gibt in seinem Buch an, dass im Jahre 1825 1300 Insassen gezählt werden, also 70 Insassen pro 100’000 Einwohner. 1848 aktualisiert er die Daten (→ GoogleBooks) und findet 2600 Personen in den Gefängnissen, allerdings nur verurteilte Insassen. Mit den Untersuchungs­häft­lingen sind es schätzungs­weise 3000 Insassen, oder 125 pro 100’000 Einwohner. Bis Ende 1900 steigen die Gefangenen­zahlen auf 4210 an; das sind 131 Insassen pro 100’000 Einwohner. 1935 sind es 6743 Insassen, oder 161 pro 100’000 Einwohner. 2013 schliesslich sind es 7072 oder in relativen Zahlen 87 pro 100’000 Einwohner. Die folgende Graphik veranschaulicht die Entwicklungen:

Gefangenenpopulation

FS1502: Wie setzt sich die Gefangenen­population nach den Kriterien des Geschlechts und des Alters zusammen?

Der Frauenanteil lag zu Beginn des letzten Jahrhunderts bei mittleren 12,5%; er sinkt bis 1990 auf 6% ab und liegt nach 2010 bei rund 5%.
Die zwei Kennwerte zum Alter sind über die ganze Zeit stabil, nämlich ein mittleres Alter von 35 und medianes Alter von 32 Jahren, eine gesamt­haft jüngere Population als diejenige der straf­mündigen Wohn­bevölkerung (mittleres Alter 46 und medianes 44 Jahre). In jüngster Zeit ist die Anzahl der über 60-Jährigen gestiegen, aber gleich­zeitig die­jenige der jüngeren 18-24-Jährigen gefallen. Diese leichte Verschie­bung hat die Kenn­werte bisher nicht verändert.

FS1503: Wie wird in der Gefängnis­statistik über die Zusammen­setzung der Gefangenen­population nach Nationalität berichtet? Welche Bedeutung kommt der Ausdifferen­zierung verschiedener Kate­gorien des Aufenthalts­status von Aus­ländern zu?

Bisher wird in der schweizerischen Gefängnis­statistik in den meisten Tabellen nur zwischen Insassen schweize­rischer und ausländi­scher Herkunft unter­schieden. Bei der Unter­suchungs­haft auch zwischen wohn­haften und nicht wohn­haften Ausländern neben den Personen im Asyl­prozess. Während zur U-Haft keine Daten nach Nationalitäten ver­öffentlicht werden, ganz einfach, weil keine erfasst werden, liegt seit einigen wenigen Jahren auch eine Tabelle zu den Ein­weisungen und den Be­ständen nach Staats­angehörigkeit vor.

Die Ausdifferenzierung der Daten nach den ver­schiedenen Kate­gorien des Aufenthalts­status von Aus­ländern erlaubt eine differen­zierte Analyse ihrer Straf­fälligkeit, d.h. eine Unter­scheidung zur haus­ge­machten Delinquenz im Ver­hältnis zu der­jenigen, die "importiert" ist. Erst eine Analyse, die zudem nach Geschlecht und Alter standardisierte Daten ver­wendet, erlaubt Ver­gleiche zwischen Schweizern und Aus­ländern, da letztere eine andere Geschlechts- und Alters­struktur aufweisen, d.h. sich mehr aus jungen Männern zusammen­setzen als die schweize­rische Wohn­bevölkerung.

FS1504: Welche Veränderungen der Ein­weisungs- und Bestandes­zahlen der ausländischen Insassen beobachtet man in jüng­ster Zeit? Wie erklären sie sich?

Die Einweisungs- und Bestandes­zahlen der Aus­länder haben sich konträr zu denjenigen der Schweizer entwickelt; betrafen zu Beginn der 1980er-Jahre 80% der Ein­weisungen Straf­fällige schweizerischer Herkunft, sind es heute noch deren 30%. Bei den Beständen nahm der Anteil der Aus­länder etwas früher zu, waren es 30% zu Beginn der 1980er-Jahre, stellen sie heute 70% des Bestan­des an Insassen.
Zur Erklärung müssen einer­seits die neuen Sanktions- und Vollzugs­formen, die den urteilenden Behörden bei schweize­rischen Straf­fälligen zur Ver­fügung stehen, erwähnt werden; es kann dies die Geld­strafe, die gemein­nützige Arbeit oder die elektronische Fuss­fessel sein. Diese Sanktions- und Vollzugs­formen werden den ausländischen Verur­teilten ohne Wohn­sitz in der Schweiz oder den Personen im Asyl­prozess, wenn überhaupt, viel weniger häufig zuge­standen. Die im Bei­trag erwähnten kantonalen Unter­schiede der Anwendung der Freiheits­strafe bei Schweizern und Aus­ländern zeigen, dass möglicher­weise neben den klassischen Selektions­prozessen auch eigentliche Diskrimi­nierungs­prozesse die Einweisungs- und Bestandes­zahlen der Ausländer beein­flussen.

FS1505: Inwiefern setzt sich die Gefangenen­population hauptsächlich aus sozial Benachteiligten zusammen? Inwie­fern ist dies auch in jüngster Zeit der Fall?

Obwohl die Frage zur Zusammensetzung der Gefangenen­population statistisch und sozial­historisch schlecht dokumentiert ist, geht aus den wenigen Angaben, über die man heute verfügt, eindeutig hervor, dass die grosse Mehr­heit der Insassen um 1900 eine niedere soziale Lage kennen, was sich anhand der Merk­male Aus­bildung, Sozial­status sowie Vermögen und Erspar­nisse ablesen lässt. Auch in den 1970er-Jahren setzt sich die breite Masse der Gefangenen aus den unteren sozialen Schichten zusammen. Und, obwohl empirische Studien immer noch fehlen, kann davon ausge­gangen werden, dass die Insassen im Freiheits­entzug, v.a. wenn sie sich aus den Kreisen der Personen im Asyl­prozess und den Aus­ländern ohne Wohn­sitz rekrutieren, eher zu den unteren sozialen Schichten zu zählen sind.

FS1506: Wie entwickeln sich Ein­weisungen und Ent­lassungen?

Da die Daten in den anderen Formen des Freiheits­entzugs fehlen, sollen hier nur diejenigen im Straf- und Massnahmen­vollzug in Betracht gezogen werden. Die verfüg­baren Daten zwischen 1984 und 2012 zeigen eine nahezu voll­ständige Über­lagerung der Ein­weisungs- und Entlassungs­daten, d.h. es gingen ebenso viele Personen in den Voll­zug wie daraus entlassen wurden.

FS1507: Wie erklärt sich der leichte Anstieg der durch­schnittlichen und medianen Aufenthalts­dauer im Vollzug?

Die durchschnittliche Aufenthalts­dauer im Vollzug ist von rund 100 Tagen zwischen 1984 und 1994 auf 150 Tagen seit 1995 angestiegen, mit einer kurzen Ausnahme­zeit zwischen 2000 – 2004. Die mediane Aufenthalts­dauer stieg von rund 25 Tagen auf nahezu 55 Tage im Jahre 2000, um seither wieder abzu­fallen und sich bei rund 40 Tagen zu stabilisieren.

Die Erklärung für den Anstieg der Aufenthalts­dauer liegt in der Tatsache, dass die mit einer unbedingten Freiheits­strafe bestraften Personen schweize­rischer Staats­bürgerschaft heute eher eine schwerere Straf­tat begangen haben müssen als früher, um in den Straf­vollzug einge­wiesen zu werden. Dies war in den vergangenen ausländer­feindlich gestimmten Jahren nicht not­wendiger­weise der Fall; bei den im Aus­land wohn­haften Aus­ländern ist wahr­scheinlich eher das Gegen­teil zu beobachten, haben doch die kurzen unbedingten Freiheits­strafen seit 2012 stark zugenommen. Gesamt­haft gesehen kann jedoch die These der tendenziellen Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe durchaus aufrecht erhalten werden; durch den Weg­fall der kurzen Freiheits­strafen, die zwischen 1991 und 2006 v.a. durch die gemein­nützige Arbeit ersetzt wurden bzw. nachher mit Geldstrafen, stiegen die durch­schnittlichen und medianen Werte der Aufenthalts­dauer im Voll­zug leicht an.

FS1508: Inwiefern finden in der Strafjustiz Selektions­prozesse statt? Kann von Diskrimi­nierung gesprochen werden?

Die im Beitrag zum Wandel der Gefangenen­population kommen­tierten Grössen­ordnungen lassen nicht nur auf die Existenz eines Selektions­prozesses zwischen sozialen Schichten schliessen, sondern auch auf eine bezüglich der Nationalität. Möglicher­weise gibt es auch einen solchen Prozess in Bezug auf das Geschlecht > siehe dazu die Publikation BFS aktuell Frauen und Straf­recht aus dem Jahre 2011 (download PDF, 512 kB). Der Autor des Beitrags geht davon aus, dass in den jüngsten Jahren in Bezug auf die Nationalität ein Diskrimi­nierungs­prozess in der Sanktionierung von Aus­ländern ohne Woh­nsitz und von Personen im Asyl­prozess gesprochen werden kann. Es wird allerdings weitere Unter­suchungen benötigen, um diesen Prozess genau bele­gen zu können.

FS1509: Welches sind die Konstanten der Gefängnis­population? Welches die jüngsten atypischen Veränderungen?

Die Konstanten der Gefangenen­population sind die folgenden: Geschlecht, Alter, soziale Schicht, Nationalität. Vor hundert Jahren setzte sich die Gefangenen­population gross­mehrheitlich aus jungen Männern aus sozial benachtei­ligten Milieus zusammen, wobei in jedem Kanton die Insassen aus den Nachbar­kantonen und –ländern speziell Erwähnung fanden. Viele Insassen waren arbeitslos, vagabundierend und hatten Alkohol­probleme neben anderen Anzeichen von sozialer Benach­teili­gung. Heute setzt sich die Gefangenen­population immer noch vor allem aus jungen Männern, die aus sozial und wirtschaftlich benach­teiligten Kreisen stammen, zusammen, die allerdings nicht mehr so stark aus anderen Kantonen stammen denn aus anderen Ländern. Unter den einge­wiesenen Personen haben heute in der Untersuchungs­haft 80% und im Vollzug 70% der Insassen eine ausländische Herkunft, wobei zu betonen ist, dass hier zwischen den Ausländern, die in der Schweiz wohnen, und denjenigen, die im Ausland wohnen, zu unterscheiden ist, was noch viel zu wenig gemacht wird. Erst die detaillierte Dar­stellung der Insassen nach Aufenthalts­stati lässt eine weiterführende Analyse zu, nämlich diejenige, ob neben den Selektions- auch Diskriminierungs­prozesse am Werk sind.