Kapitel 14 | Vom "Hülfsverein" zur Bewährungshilfe

FS1401: Welches sind die sozialen und strafrechtlichen Bedingungen für die Entstehung einer staatlichen Schutzaufsicht?

Als eigentliche Vorbedingung muss zuerst die Etablierung des Freiheits­entzugs in seiner modernen Form genannt werden, als geregelte Unter­suchungs­haft und als Freiheitsstrafe, wie sie im modernen Strafgesetz­buch definiert wird. Die Entstehung einer staatlichen Schutz­auf­sicht steht im Zusammen­hang mit der aktiven Unter­stützung der Wieder­ein­gliederung aller aus dem Straf­vollzug entlassenen Personen (soziale Bedingung). Bis zur Mitte des 19. Jahrhun­derts waren es vor allem private philanthro­pische und religiöse Kreise und Organi­sationen, die sich in der Entlassenen­hilfe engagierten, insbe­sondere im Zusammen­hang mit der Fests­tellung einer hohen Rück­fälligkeit der Entlassenen. Kritisch ins Gewicht fällt jedoch, dass diese Kreise immer wieder selektiv Entlassenen­hilfe anboten, nicht alle Entlassenen unter­stützten und deren Weg­zug in einen anderen Kanton nicht begleitet werden konnte. Nach­dem im 19. Jahr­hundert in einer steigen­den Anzahl Kantone die bedingte Entlassung als eigene Stufe des Voll­zugs verstanden wurde (rechtliche Bedingung), sah sich der Staat einerseits unter dem Zwang, die unter Probe­zeit gestellten Entlassenen zu kontrollieren, und anderer­seits alle in Richtung einer erfolg­reichen Wieder­eingliederung zu unter­stützen. So konnte die selektiv vor­gehende und auf Freiwillig­keit basierende Hilfe letztlich nicht Bestand haben, sondern musste zur staatlichen Schutz­aufsicht werden, die alle bedingt Entlassenen zu betreuen hat.

FS1402: Welche Rolle kommt dem Freiheitsentzug und der Vereinigung Straf-, Gefängniswesen und Schutzaufsicht in der Ausgestaltung der Schutzaufsicht zu?

Bei dieser Frage müssen unter dem Begriff Freiheits­entzug die Direktionen der Einrichtungen des Freiheits­entzugs sowie deren Vereini­gung aus dem Jahre 1864 verstanden werden, die aller­dings erst anfangs des 20. Jahrhun­derts die Vertreter der Schutz­aufsichts­ämter in ihren Verein einlud und ihren Namen entsprechend erweiterte.

Der Verein verfolgt gegenüber der Aus­gestaltung der Schutz­aufsicht eine aktive Politik. Bereits vor der Vereins­gründung hatten Gefängnis­direktoren in Genf, in St. Gallen und in Lenzburg im Kanton Aargau eine aktive Rolle in der Einrichtung einer Schutz­aufsichts­behörde in ihrem Kanton eingenommen. Mit der Vereins­gründung wurde die Übernahme dieser Aufgabe durch den Staat vom Verein gefördert, wobei einzelne Kantone sich mit deren Um­setzung sehr schwer tun.

FS1403: Welche Etappen können in der Entwicklung der Organisation der Bewährungs­dienste beobachtet werden?

Mit wenigen Ausnahmen (St. Gallen) entstehen die Organisationen im Bereich der Bewährungs­hilfe zuerst auf privater oder kirchlich-religiöser Basis. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts werden von den kantonalen Verwaltungen in den Polizei- und Justiz­departementen staatliche Schutz­aufsichts­behörden eingerichtet, ein Prozess, der erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beendet ist. Diese arbeiten lange nach ganz unterschiedlichen Praxis­modellen, die einen mehr als eigentliche Behörden, die anderen indem sie die Schutz­aufsicht an gutsituierte Bewährungs­helfer delegieren.

Im 20. Jahrhundert entwickeln sich die Schutz­aufsichts­ämter zunehmend zu Bewährungs­diensten, wobei sie sich nach den 1960er-Jahren mehr auf die Unter­stützungs­funktion konzentrieren denn auf die Kontroll­funktion. In den jüngsten Jahren hat sich das Selbst­verständnis der Bewährungs­dienste, vorab in den grossen Kantonen, nochmals gewandelt, steht doch heute weder die allgemeine Kontroll- noch die Unterstützungs­funktion im Vorder­grund, sondern die risiko­orientierte Bewährungs­hilfe. Deren Umsetzung könnte in den kommenden Jahren auch organisatorische Folgen haben, insbesondere im Macht­gefüge der Bewährungs­dienste.

FS1404: Wie verändern sich die Aufgaben der Bewährungs­dienste in der Zeit?

Aus einer anfänglich kirchlich-religiös oder philanthro­pischen, meist selektiven, morali­sierenden und kontrol­lierenden Sozialarbeit wird zu Beginn des 20. Jahrhun­derts eine staatlich organisierte, zentral oder dezentral durch­geführte Schutz­aufsicht, die sich mehr als Kontroll­tätigkeit denn als Sozial­arbeit versteht. In den 1960er-Jahren wandelt sich unter der massiven Teil­nahme von Sozial­arbeitern und einem neuen Selbst­verständnis der Sozial­arbeit in der Justiz die frühere Schutz­aufsicht in Bewährungs­hilfe, d.h. eine materielle und sozial­pädagogische Unter­stützung mit dem Ziel der Führung eines straf­freien Lebens. Diese Ziel­setzung, die alle zu Unter­stützenden gleich behandelt, wird ab der Mitte der 1990er-Jahre in Frage gestellt und im Zusammen­hang mit risiko­orientiertem Straf­vollzug neu überdenkt. Nach neuen Prinzipien geht es nicht mehr in erster Linie um die undifferenzierte Betreuung aller Personen, die den Bewährungs­diensten unterstellt werden, sondern um deren Selektion nach hohem, mittlerem und niedrigem Rückfall­risiko und unter­schiedlichem Unterstützungs­bedarf. Je nach Risiko ist die Betreuung speziell zur Verhinderung des Ein­tretens eines Rück­falls zu organisieren; deshalb können Klienten mit geringem Risiko an Sozial­dienste weiter­geleitet werden.

FS1405: Welches sind die Merkmale der heutigen Ausrichtung von Bewährungshilfe und wie unter­scheidet sie sich von derjenigen in früheren Zeiten?

Das wichtigste Merkmal der heutigen Ausrichtung von Bewährungs­hilfe ist die Risiko­orientierung in der Betreuung von Personen, die den Diensten unterstellt werden. Dabei geht es darum, fest­zustellen, ob grund­sätzlich Rückfall­risiken bestehen, welches die Risiko­faktoren sind und welches die notwendigen Begleit­massnahmen sind. Ent­scheidend ist weiter die Beobachtung des Verlaufs, so dass bei Bedarf neue Entscheide gefällt werden können. Diese neueste Form der Betreuung wird kombiniert mit klassischen Formen der Unter­stützung bei der Wohnungs- und Arbeits­suche, bei der Schulden­sanierung oder der Kontrolle einer weiter­laufenden ambulanten Therapie.

Diese hoch­spezialisierte Form der Betreuung setzt sich ab von den früheren, sozial­pädagogisch inspirierten Formen der Bewährungs­hilfe, die grund­sätzlich allen unterstellten Personen undifferenziert zu Gute kommen sollten.

FS1406: Was wird unter durch­gehender Betreuung verstanden?

Das Konzept der durchgehenden Betreuung entstand gegen Ende des 20. Jahr­hunderts. Sie zielt darauf ab, Personen bereits in der Untersuchungs­haft, dann während des Vollzugs und in der Entlassungs­periode wie nach der Entlassung aus dem Straf­vollzug zu betreuen. Traditioneller­weise setzte Schutz­aufsicht, wie auch Bewährungs­hilfe, erst nach einer bedingten Entlassung, die notwendiger­weise eine Unter­stellung nach sich zog, ein. Mit der Ein­führung von Art. 96 StGB Soziale Betreuung kann, wenn sie aufgaben­mässig den Bewährungs­diensten übergeben wird, eine durch­gehende Betreuung umgesetzt werden. Der Fach­verband hat sich 2001 für das Konzept der durchgehenden Betreuung ausgesprochen und ihren Namen per 2007 von Schweizerische Vereinigung für Bewährungs­hilfe in Schweizerische Vereinigung Bewährungs­hilfe und soziale Arbeit in der Justiz umbenannt.

FS1407: Was ist risikoorientierte Bewährungs­hilfe?

Risikoorientierte Bewährungs­hilfe zielt darauf ab, Personen, die einem Bewährungs­dienst unter­stellt werden, dahin­gehend zu untersuchen, ob sie grund­sätzlich Rückfall­risiken auf­weisen und welches allen­falls die wichtigen Risiko­faktoren, die Defizite und Ressourcen der Klienten sind. Dann geht es darum, fest­zuhalten, welche Begleit­massnahmen zu treffen sind, um dem Rückfall­risiko entgegen­zuwirken. Es soll ganz gezielt ein allfällig vorhandenes Risiko­verhalten beein­flusst werden. Entschei­dend ist weiter die Beobachtung der Umsetzung der Mass­nahmen und des Verlaufs der Wieder­eingliederung, so dass bei Bedarf neue Entscheide der Risiko­minderung gefällt werden können.

FS1408: Beschreiben Sie das heutige Zusammen­spiel der Fach­verbände und der Organisations­formen offizieller Bewährungs­dienste.

Die kantonalen Bewährungs­dienste stellen, mit einer Ausnahme, staatliche Verwaltungs­einheiten dar, denen heute im Allge­meinen länger­fristige und jährliche Ziel­vorgaben definiert werden und die über ein bestimmtes Budget und Personal verfügen. Deren Leiter oder Direktoren unter­stehen einem Justiz­vollzugsamt oder in kleineren Kantonen direkt dem Justiz­direktor. In jedem Konkordat delegieren die Bewährungs­dienste einen Vertreter in ihre Konkordats­konferenz.

Die Führungskräfte der Bewährungs­dienste bilden zusammen die Schweizerische Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Bewährungs­hilfen (SKLB). Daneben besteht die um­fassendere Schweizerische Vereinigung Bewährungs­hilfe und Soziale Arbeit in der Justiz, die sich als Fach­verband der Mit­arbeitenden im Straf- und Massnahmen­vollzug, in den Bewährungs­diensten und in den Sozial­diensten in den Justiz­vollzugs­institutionen versteht.

FS1409: Welches sind die Heraus­forderungen, vor denen die Bewährungs­dienste heute stehen?

Zwei Herausforde­rungen können erwähnt werden: Einerseits geht es darum, ob die Bewährungs­dienste die neuen, umfassen­deren Auf­gaben der durch­gehenden Betreuung neben der klassischen Bewährungs­hilfe und weiteren Auf­gaben, die ihnen zum Teil über­tragen wurden, wie der Durch­führung von gemein­nütziger Arbeit oder des elektronisch überwachten Straf­vollzugs, mit den bestehenden Ressourcen über­haupt umsetzen können. Die Frage ist hier, welche Prioritäten in der Umsetzung der Betreuungs­aktivität gesetzt werden und mit welcher Effizienz und Wirkung die gesamte Arbeit geleistet wird. Anderer­seits kann davon ausge­gangen werden, dass sich die risiko­orientierte Bewährungs­hilfe zunehmend als Modell durch­setzen wird, wobei auch hier deren Effizienz und Wirkung mittel­fristig beobachtet und evaluiert werden sollte. Im Dokument zu den Grund­lagen und Haupt­aufgaben der Bewährungs­hilfe in der Schweiz aus dem Jahr 2013 wird unter dem Titel der zukünftigen Heraus­forderungen der Bewährungs­hilfe die Risko­orientierung genannt, die Über­prüfung verschiedener Modelle des Risiko­managements sowie die Entwicklung von Mediation als Angebot der Bewährungs­dienste.

Links zum Kapitel 14

Schweizerische Vereinigung Bewährungshilfe und soziale Arbeit in der Justiz: www.prosaj.ch

Leitbild der Schweiz. Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Bewährungshilfen (PDF)