Kapitel 12 | Sonderfall Verwahrung

FS1201: Inwiefern ist die Verwahrung eine spezialpräventiv ausgerichtete Sanktion?

Ziel der Verwahrung ist die Sicherung der gesellschaftlich anerkannten Rechtsgüter vor einem «gefährlichen» Täter. Die Dauer der Verwahrung richtet sich deshalb grundsätzlich nach der Gefährdung, die vom Täter ausgeht.

FS1202: Für welche Tätergruppen sahen der Vorentwurf von 1893 und das StGB von 1937 Verwahrungsmassnahmen vor? Welche Tätergruppe steht heute im Fokus?

1) Gegen wiederholt rückfällige Täter, so genannte «Gewohnheits­verbrecher», sowie unzurechnungs­fähige oder vermindert zurechnungs­fähige Täter,
2) Täter, die schwere Gewalt- und Sexual­delikte begangen haben, und von denen erneut solche zu erwarten sind.

FS1203: Was versteht man unter «Zweispurigkeit»?

Ein Strafrecht wird dann als zweispurig (dualistisch) bezeichnet, wenn das Gesetz sowohl Massnahmen als auch Strafen vorsieht (gesetzlicher Dualismus) respektive dem Richter die Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Sanktionstypen lässt (richterlicher Dualismus).

FS1204: Worin unterscheiden sich grob gesagt Strafen und sichernde oder bessernde Massnahmen?

1) Auf der Ebene der Strafzwecke: bei Massnahmen stehen spezialpräventive Ziele (Resozialisierung, Sicherung) im Vordergrund, während mit der Strafe verschiedene Zwecke verfolgt werden (Vergeltung, Abschreckung, Resozialisierung, zeitweise Sicherung),
2) hinsichtlich der Bemessung: das Mass der Strafe richtet sich nach der begangenen Tat und dem individuellen Verschulden, die Dauer der Massnahme dagegen nach ihrer Zweck- und Verhältnismässigkeit,
3) hinsichtlich ihrer Dauer: eine Strafe ist befristet, eine Massnahme grundsätzlich unbefristet; sie wird aufgehoben, wenn ihr Zweck erreicht respektive ihre Weiterführung zwecklos oder unverhältnismässig geworden ist.

FS1205: Inwiefern kommt dem kantonalen Versorgungsrecht eine Vorbildfunktion für die Verwahrung zu? Worin liegt der wichtigste Unterschied?

1) Wie die Verwahrung stellt das kantonale Versorgungs­recht weniger auf eine isolierte Tat, sondern auf die Persönlich­keit und Lebens­weise des zu Internierenden sowie auf die «Störung» ab, die von diesem künftig zu erwarten ist. Eine gewisse Vorbild­funktion besteht auch hinsichtlich der Abhängig­keit der Entlassung vom «Wohl­verhalten» des Internierten und der dadurch gegebenen (relativ) flexiblen Haftdauer.
2) Im Gegensatz zum Versorgungs­recht betrifft die Verwahrung Personen, die wegen einer Straftat verurteilt werden.

FS1206: Datieren und charakterisieren Sie grob die drei Phasen der Vollzugspraxis von 1942 bis 2010.

1. Phase: 1942 bis Mitte der 1950er-Jahre, relativ expansive Anwendung der Verwahrung, starke Fokussierung auf wiederholte, jedoch geringfügige (Eigentums-)Delinquenz.
2. Phase: Mitte der 1950er-Jahre bis Mitte der 1980er-Jahre, sukzessiver, ab 1971 deutlicherer Rückgang der Anwendung, weiterhin Fokussierung auf Klein­delinquenz, jedoch zunehmende Bedeutung schwererer Anlass­taten.
3. Phase: Mitte der 1980er-Jahre, Beschränkung auf Einzel­fälle und Fokussierung auf schwere Gewalt- und Sexual­delikte, Verzicht auf die Rückfälligen­verwahrung, ab den 1990er-Jahren führt die Verschärfung der Entlassungs­praxis zum Anstieg der Insassen­bestände.

FS1207: Worin unterscheiden sich die kriminalpolitischen Stossrichtungen der Diskussionen in den Phasen 1970–1990 und 1990–2010? Welche Ereignisse und Entwicklungen können für den Umschwung zwischen den beiden Phasen verantwortlich gemacht werden?

1970–1990: Die rechtsstaatliche Zügelung des Massnahmen­rechts (Verhältnis­mässigkeits­prinzip) und der (weitgehende) Ersatz der Verwahrung durch resoziali­sierende Massnahmen stehen im Vordergrund.
1990–2010: Die Forderung nach einem verbesserten Schutz der Gesellschaft, zero tolerance und verschärfte Entlassungs­bedingungen, beherrscht die Diskussion, früheren Reformen wird nun überzogene Täter­freundlichkeit unterstellt. Verantwortlich für den Umschwung sind u. a. einzelne spektakuläre Gewalt­verbrechen (Mord vom Zollikerberg 1993), das wachsende Gewicht der Opfer­perspektive in der politischen Diskussion, offensiv verbreitete Prognose­versprechen von Seiten der Psychiatrie, politischer Druck durch die 1998 eingereichte Verwahrungsinitiative.

FS1208: Welche Folgen hatte die Verwahrungsinitiative auf die gesetzlichen Bestimmungen über die Verwahrung?

1) Das Parlament sieht 2002 erstmals die Verwahrung geistesgesunder Erst­täter vor und verschärft die Entlassungs­bedingungen.
2) 2006 werden das revidierte StGB «nachgebessert» und der Anwendungs­bereich der Verwahrung auf mittelschwere Anlass­delikte ausge­weitet und die Möglich­keit einer nachträglichen Verwahrung eingeführt.
3) 2007 erlässt das Parlament Ausführungs­bestimmungen für die lebens­lange Verwahrung gemäss der 2004 angenommenen Verwahrungs­initiative.